Ellinor Euler – Den Schatten an die Hand nehmen

Gib deinem Spruch auch den Sinn:
gib ihm den Schatten.

Gib ihm Schatten genug,
gib ihm so viel,
als du um dich verteilt weißt zwischen
Mittnacht und Mittag und Mittnacht.

Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings –
Beim Tode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht.

Paul Celan

 

Der Schatten ist ein Anfang: Folgen wir dem Mythos so steht der Schatten am Anfang aller Abbilder. In der Erzählung von Plinius dem Älteren ist der aus dem Geist der Liebe gezeichnete Schattenriss der scheidenden geliebten Person die Urform der Kunst. Und mag die Liebe auch noch so flüchtig sein wie dieser Schatten, die Zeichnung bleibt. Was hier bewahrt bleibt, ist allerdings keine Unmittelbarkeit. Im gleichen Maße, wie der Geliebte dem Bilde eingeschrieben wird, entzieht er sich seinem optischen Doppelgänger.

Die Kunst, so könnte man sagen, ist aus dem Schatten geboren und mit dem Versuch, etwas festzuhalten, was sich nicht festhalten lässt, war sie in der Welt. Ganz wie der Schatten, der sich den Dingen verdankt, ohne je Ding zu sein, sind Kunst und Schatten innig verbunden. Beide verdanken sich einer Wirklichkeit, die nicht wirklich ist. Der Schatten gehört dazu, untrennbar. Und doch kann der Mensch ihn nicht besitzen, nicht einfangen, nicht beherrschen. Schatten sind unfassbar, ephemer, wandernd, merkwürdige Erscheinungen zwischen etwas und nichts. Zugleich schaffen Schatten Raum, erzeugen erst räumliche Wahrnehmung.

Eine ähnliche Zwischenstellung erreichen die Gebilde von Ellinor Euler. Bei aller Vielfalt der bildnerischen Recherche der Künstlerin setzt die Linie Zeichen. Die Linie bleibt eine wesentliche Grundfigur in ihrem Werk – und jede, in all ihrer Einfachheit gezogene Linie umgreift ja ein Doppeltes: Sie ist einerseits Spur einer Bewegung, Abbild einer Geste – ein Energon. Andererseits schafft jede Linie, sowie das Spiel des Lineaments, ihre Bündelung, ihre Verwebung, ihre wechselseitige Kommunikation ein Anderes, eine eigenständige, nie gesehene Welt.

Die Linie kann aber auch ganz konkretes Material werden. In den skulpturalen Gebilden von Ellinor Euler wird die Linie zum Experiment jenseits der traditionellen Zeichnung als einer an die Fläche gebundene grafische Form. Hier übersteigt die Linie die Grenzen des Zeichnungsbegriffs, sie verselbständigt sich zur Raumzeichnung und bildet räumliche Strukturen. Dabei ist der Raum der Kunst nicht das Jenseitige der Skulptur, sondern wird von ihr inkorporiert, ist konstituierender Bestandteil, entsteht durch das Dazwischen und dies auf vielfältige Weise: In Drahtnetzen, klar oder ineinander verschlungen wird Raum gleichsam eingefangen, verdreht, verdichtete, erlöst. Vom Einzelnen zum Gesamt öffnen sich immer neue Blicke und Durchblicke, neue Nuancen in den Überlagerungen von Farbe und Form.

Mit ihrer Raumarbeit geht Ellinor Euler präzise und frei auf die vielfach geschichtete Geschichte des Invalidenhauses und der Gegend ein, bringt ihre Schatten zum Sprechen:
Zwei schwarze Tondos antworten auf die dem Raum diagonal eingefügten Drahtgebilde, die durch ihre Transparenz und Luftigkeit hindurch Einzäunung, Ausgrenzung und Abgrenzung assoziieren lassen. Die Rundbilder und die schwarzen Quadrate wiederum sind wie ein fernes Echo auf ein Ikone der Moderne, Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat: Ein radikaler Neuanfang, ein Akt der Befreiung, der Sinne und Geist läutern und die Menschen offen für eine neue Welt und Wirklichkeit, für die reine Empfindung machen wollte. Aber auch Robert Fludds Kupferstich aus dem Jahr 1617, ein schwarze Viereck, das an allen vier Seiten die Inschrift Und so ins Unendliche – Et sic in infinitum trägt, klingt an. Auch der Raum hier ist eine Passage, der die Grenzüberschreitungen vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Bewussten zum Unbewussten, vom Sagbaren zum Verstummen anschaulich macht. Aus der schwarzen Fläche treten wie aus dem Schatten Zeichen hervor, auf der schwarzen Fläche spiegelt sich das Licht, so wie für Goethe die farbigen Erscheinungen das Ergebnis eines ständigen Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen Weiß und Schwarz waren. Für Adorno schließlich ist das Schwarz der Kunst eine Möglichkeit, inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen. In Ellinor Euler Installation Below reflektieren sich im Schwarz der Rundbilder, in der skripturalen Bezeichnung, die den Drahtgebilden eingeschrieben ist, die Unsichtbarkeit des Sichtbaren und gleichzeitig die Unlesbarkeit des Lesbaren, und dies in höchster Transparenz.

Ein Drahtgebilde spiegelt sich: In der Metapher des Spiegels, der Spiegelung verweben sich ganz unterschiedliche, sogar gegenläufige Motive und Motivationen. Er wurde und wird zugleich als Instrument der Wahrheit und als Produzent von Illusionen, als Werkzeug des Teufels und als Symbol der göttlichen Inspiration gedeutet. Die Figur der Vanitas und die künstlerische Wiedergabe/Widerspiegelung sind im Bild des Spiegels ebenso enthalten wie die Auffassung des Universums als einem großen Spiegeltheater, in dem jedes Ding alle anderen spiegeln und bedeuten kann. Folgen wir Albertis Deutung des Narziss wird auch in dieser Erzählung der Erfindung der Kunst thematisiert. Die Fragilität und Flüchtigkeit des Bildes auf der Wasseroberfläche, das erscheint und verschwindet, das nicht festzuhalten ist, impliziert – ebenso wie der Schatten – die Tragik des Vergänglichen. Aber was im Mythos als Täuschung entflieht, kommt in der Malerei als Kunst zurück. Der Blickende sieht sich in der Welt, sieht seinen Blick auf die Welt. In dieser Interpretation wird aus einem Narziss, der sich in seinem Bild verliert, ein Subjekt, für den sich im Bild, im Blick und Gegenblick die Selbsterfahrung, aber auch ihre schwindelerregende Abgründigkeit öffnet, eine Wendung, die zugleich die Kunst selbst befragt. Nun ist das Bild nicht mehr eine sinnlose Doppelung wie in Platons Verdikt der Spiegelung, sondern die Möglichkeit sich außerhalb seiner selbst, in einem Kunstwerk zu setzen und zu finden.

 

Ellinor Eulers Gebilde erschließen von Raum zu Raum, von einem zum andern, Leichtigkeit und Schwere, Mobilität und Still, Material und Transparenz, Idee und Körper, Konstruktion und Emotion – und damit das vielfache Ansinnen an die Kunst, wie es sich in der Renaissance im Begriff des Disegno herausbildete: Disegno bezeichnet ein Konkretes und zugleich ein Geistiges, ist Darstellung und Entwurf, Nachformung, Vorformung, Verformung und bringt gerade dadurch noch nicht Realisiertes, die Idee zur Anschauung und zur materiellen Gewissheit. Immer geht es um den Vorgang des Sehens, der Visualisierung und der Wahrnehmung in der unauslotbaren Ambivalenz von Schatten und Licht, von Negativ und Positiv, von Präsenz und Absenz. Die Geflechte erschließen in ihrer prekären Instabilität die Zeitlichkeit aller Wahrnehmung, gerade indem sie eigenwillig die Grenze zwischen Etwas und Nichts thematisieren und zugleich mit dieser Grenze spielen: Sichtbarkeit und die Kehrseite aller Sichtbarkeit, ein Da-Sein, ein Verschwinden, eine andauernde Ambiguität, die jeder Welterschließung innewohnt. Wahrnehmung ist das Sinnesvermögen des Körpers, sie vermittelt zwischen Welt und innerem Bild. Die Dinge sind in stetem Übergang, und diese Übergänge werden erlebbar, sichtbar, nachvollziehbar als wechselnde Materialisierungen.

Ihre ephemere, bewegte, bewegliche Raumkunst setzt schwebend ein Spiel in Gang zwischen der mehr oder weniger zufällig entstehenden Form und ihrer Farbe, zwischen graziler Fülle und Leere,
zwischen Struktur und Gestrick. Solche Dinge bringen ihren jeweils eigenen Raum zum Klingen – in einem Dazwischen, das sich in der Figuration und durch die Figuration hindurch immer neu ergibt. Die Inszenierungen entfalten eine skulpturale Poesie und öffnen wie selbstverständlich einen Zwischenraum zwischen Betrachter und Werk, zwischen Werk und Raum, zwischen Denken und Anschauung. Sie bilden einen oszillierenden, unbestimmt bleibenden, auf beiden Seiten schwingenden Schwellenraum.

Auch ihre Zeichnungen, ihr zeichnerischer Strich erfasst eine Essenz, die Fülle im Fast-Nichts im Spiel mit der Leere. Die bewegte und bewegliche Linie erspielt ganz direkt und in großer Spontaneität Transformation, Verwandlung, ist Ein-sich-Einlassen auf einen unabschließbaren Prozess, auf ein Sehend–Werden, Sichtbar-Machen; Sichtbarkeit in genau dem Augenblick, in dem die Hand gestaltet und das Auge sieht: Eine Bewegung im Werden, die sich weniger im festgestellten Werk realisiert als im permanenten Impuls, eine Bewegung, die zugleich Kluft, Brücke und Zwischenwelt ist.

In Ellinor Eulers Zeichnungen können sich repetitive Strukturen auf der Bildfläche ausbreiten, wobei bei aller Strenge und Reglementierung des Vokabulars das Handschriftliche sichtbar bleibt: Die Linien sind unregelmäßig und auch das Bildformat entwischt der strikten Geometrie. Linien leuchten auf dem tiefen Schwarz des handgeschöpften Papiers, wie ein geheimnisvoller Code. Die Linien können sich zu Gespinsten, Gittern, Netzen konfigurieren. Die Linien-Gebilde entfalten eine vibrierende, innerbildliche Dynamik, entwickeln sich zu zarten, spannungsvollen, lebendigen Strukturen, die mikroskopische und makroskopische Sicht aneinander grenzen lassen: pulsierende, vibrierende Gebilde, Verdichtungen, Lockerungen. Das Ganze und seine Teile, verschiedene Perspektiven kippen ineinander. Unendlichkeit und Beginnlosigkeit sind eins, ein ständiges Changement zwischen Präzision und Vagheit, zwischen Rhythmus und Sinn, zwischen musikalischer Notation und Bildlichkeit: Zeichnungen, Aufzeichnungen, die das komplexe Verhältnis von Kalkül und Form, von Wiederholung und Resonanz, von Geste und der Spur einer Bewegung immer neu ausbalancieren. Solchem Begriff der Spur korrespondiert das Gespür der Künstlerin: eine „ratio incerta“, die sich dem nicht Fixierbaren und seinen besonderen Luziditäten annähert.

Im Durchgang durch alle Schattierungen, durch Unwägsames, durch Flüchtiges wird den Dingen erst eigentlich ihre Dimension gegeben. Und auch im eingangs zitierten Gedicht Paul Celans erscheint, wie bei einem kristallinen Gitter, die Sprache durch ihre Verschattung als räumliche Struktur, die ihre Tiefe dem verdankt, was im Verborgenen liegt. Erst das Mitsprechen dieses Verborgenen macht das Angesprochene lebendig.

Und ebenso verlebendigen sich in und durch Ellinor Eulers Installation sich die Räume des Invalidenhauses, der geographische Raum und die in ihnen gespeicherte Erinnerung.

 

Dorothée Bauerle-Willert

Anläßlich der Ausstellung 04.07. – 15.09. 2020

im ehemal. Invalidenhaus Friedrich W.II im Dosse Park Wittstock/Dosse